Leserbrief an das GT zum Kommentar von Ilse Stein: Skurriles zwischen Laser, Kranich und Altstadtfest v. 4.2.2006

teilweise abgedruckt am 16.2.2006

Die Chefredakteurin des Göttinger Tageblattes, Frau Stein, hatte die widersprüchlich erscheindende Planung eines Lichtkonzeptes für die Göttinger City und den Antrag der CDU-Stadtfraktion für ein „dark-sky-Konzept“ als skurril bezeichnet und sich über die Befürchtung von Ornithologen mokiert, der Kranichzug würde durch eine Lasershow zu Ehren der Göttinger Gelehrten Gauss und Weber irritiert.

hier aufgrund der überraschenden Resonanz in ganzer Länge, da viele Passagen nicht abgedruckt wurden:

 

 

Liebe Frau Stein,

die Vielfalt der Auffassungen in unserer Stadt mag manchmal wirklich skurril erscheinen, und sicherlich ist jeder von uns mehr als einmal der Versuchung erlegen, sich angesichts widersprüchlich anmutender Entwicklungen an die Stirn zu tippen. Wer Göttingen aber lange genug kennt, vielleicht sogar in dieser Stadt geboren ist, hat sich nicht nur an diese Skurrilität gewöhnt (und ist meinetwegen gern ein Teil von ihr), sondern hat dieses Denkangebot schätzen und lieben gelernt – es ist einfach Teil der Stadt.

Auch wenn es skurril erscheint: Kraniche und der Nachthimmel haben mindestens ebenso hohe Verdienste für die Wissenschaft wie Gauss und Weber. Folgen Sie mir auf eine alternative Betrachtungsweise.

Seitdem der Mensch so etwas wie denken kann, hat sich sein Blick zum Himmel gerichtet. Sterne und Vögel waren stets eine Herausforderung für ihn, haben ihm gleichermaßen die Eingeschränktheit seines Daseins wie auch die Möglichkeit aufgezeigt, sich durch Forschung neue Horizonte anzueignen. Millionen von Stunden haben Menschen mit der Betrachtung des Himmels und der Deutung der Sterne verbracht. Tausende von Jahren brauchte der Mensch, um sich von der Erde zu erheben.

Wenn wir uns heute mit diesen Erkenntnissen zufrieden geben und glauben, nun alles erreicht zu haben, blenden wir mit dem Himmel auch uns selbst. Die Lichtglocke über uns ist gleichsam ein Bild unserer Eitelkeit. Wir brauchen nur die Sterne als Dekoration draufzulasern. Die Kraniche sind uns egal, wir fliegen selber. -

Übertreibung macht anschaulich. Jetzt im Ernst:

Ein „dark-sky-Konzept“ ist natürlich keine Verdunkelung von Göttingen, im Gegenteil: es ist ein gezieltes Lichtkonzept, welches die Stadt erhellt und den Nachthimmel dunkel lässt. Es ist durchaus den Bestrebungen vergleichbar, mit Hilfe gezielter Energiekonzepte die Wärme in unseren Gebäuden zu lassen und nicht den Himmel mitzuheizen. Die letztere Erkenntnis hat sich seit langem durchgesetzt, die erstere wird es auch tun. Hoffentlich schnell genug in Göttingen, der Stadt, die Wissen schafft. Padua scheint in diesem Punkt schon erheblich weiter zu sein.

Jede Stadt kann sich eine Lasershow einrichten. Aber welche Stadt bietet Jahr für Jahr das wiederkehrende Spektakel des Kranichzuges? Ohne Satellitennavigation, nicht einmal mit Kompass und Sextanten haben sich diese wunderbaren Vögel seit undenkbaren Zeiten den Planeten in einem Maßstab zu eigen gemacht, der uns erst gerade mal zwei Generationen zugänglich ist. Ohne den Vogelflug, den Otto Lilienthal Jahre lang studierte und ein bahnbrechendes Buch darüber schrieb, wären wir heute noch Fußgänger und Seefahrer. Der Formationsflug des Kranichs, mit dem er, im Aufwind des Nachbarvogels fliegend, das Spiel der Strömung um seinen Körper optimal nutzt, ist en schönes und treffendes Sinnbild für die Strömungsforschung, die von Ludwig Prandtl in Göttingen begründet und als Wissenschaftszweig ausgebaut wurde. Nicht umsonst ist der Kranich das Wappentier der Lufthansa.

Nichts gegen das Werk von Gauss und Weber. Aber sind die Kraniche nicht auch einer Würdigung wert? Wollen wir wirklich in Kauf nehmen, dass sie ihre jahrtausende alte Route ändern – auf dass wir später eine andere Stadt um ihren Kranichzug beneiden müssen? Ich denke, hier liegen keine Gegensätze. Gauss und Weber, die wie alle früheren Forscher viel breiter dachten als unsere Fachwelt heute, hätten schon eine Lösung aufgezeigt.